Poesie des Verlustes

An meinem Kühlschrank hängt bis heute ein Graph,

auf dem man sieht, wie ein menschliches Herz zerbricht.“

 

Vorsicht, #Spoiler!

„Ein Buch in der Hand kann ein echter Rettungsanker sein – wenn die See des Lebens zu rau ist, klammert man sich an Geschichten und lässt sich von Ihnen in Sicherheit bringen.“

Was sich liest wie ein dringender Rat für die aktuell raue See der Geschehen, wie ein Buch geschrieben für diese Zeit – es ist es nicht. Es ist ein Buch für jede Zeit, für alle Zeiten. Zeiten, die kommen, und Zeiten, die gehen werden. Es ist ein Buch des Verlustes. Und Verluste begleiten uns, immer.

Paula hat etwas verloren. Ihren Bruder Tim. Nun kämpft sie sich aus dem Marianengraben ihrer Seele zurück ans Licht.

„Wusstest du, dass der Marianengraben die tiefste Stelle des Weltmeeres ist? … Elftausend Meter tief bohrt sich dieses Loch in die Erdkruste, würde man den Mount Everest hineinwerfen, versänke er spurlos darin. … Auch mir war das mit den elftausend Metern eigentlich zu abstrakt. Erst als ich dort ankam, also ganz unten in der Dunkelheit, wo es kein Licht mehr gibt, keine Farben und kaum noch Sauerstoff, bekamen diese elf Kilometer und all diese Ziffern und Größenordnungen eine greifbare Qualität für mich – elftausend Meter unter Wasser sind gleichbedeutend mit einem Meter neunzig unter der Erde, der Tiefe deines Grabes.“

Und just in dem Moment, in dem sich Paula die ersten 1.050 der 11.000 Meter nach oben kämpft, trifft sie auf dem Friedhof Helmut – die Situation könnte skurriler nicht sein (… und muss selbst gelesen werden).

Helmut, der den „Marianengraben seiner Seele“ lange schon durchmessen und seine Wunden, die nun Narben sind, davongetragen hat, ist Paulas Rettung. Und Paula ist seine, irgendwie.

Paula ist Biologin und promovierte, bevor sie versank. Helmut begibt sich (#Spoiler) auf seine letzte Reise. Sie begleiten einander, unfreiwillig freiwillig.

Heulen Sie jetzt schon wieder?

Helmut ist nicht der nette alte Mann von nebenan. Helmut ist nicht einmal freundlich. Er ist und bleibt eigen und griesgrämig und sehr klar in seinen Vorhaben. Aber auch Paula ist weit davon entfernt, sich erwartbar zu verhalten. (#Spoiler) Versunken in tiefer Depression und kämpfend mit Suizidgedanken, reagiert sie, wie es eben gerade geht, in diesem Augenblick, der anders ist als jeder nächste.

„In mir breitete sich das Nichts aus, es hatte kein Gefühl, kein Aussehen, keinen Geruch, keinen Klang, keinen Geschmack. Ich war ein Menschenkostüm, das Nichts enthielt.“

Und ja, endlich heult Paula.

Diese Situation eröffnet eine Fülle mehr oder weniger schräger Situationen, mit eigenem, sehr heilsamem Humor.

„Man kann das Leben nicht aufhalten, wissen Sie. Das geht nicht. Und den Tod kann man auch nicht kontrollieren, weil er nun einmal zu diesem bekloppten Ritt namens Leben gehört. Ich meine … (…) genau jetzt könnten gefrorene Exkremente auf uns landen und dann wären die Lichter aus. (…) Das habe ich mal in einer Dokumentation gesehen. Da hat ein Flugzeug die gefrorenen Exkremente der Passagiere verloren.“

So ist es wohl.

An keiner Stelle ist man peinlich berührt oder gar betreten betroffen. Man ist präsent mit Paula in einem Gefühlsleben, das eigentlich nicht beschreibbar ist, und doch gelingt es ein Stück weit. Nie sinken wir mit ihr hinab in die Tiefe. Und doch verstehen wir.

Wollen Sie sterben?

Mit einer Direktheit, die fast ebenso schmerzhaft ist wie das Gefühl selbst, geht Helmut mit Paulas Depression um. Und trifft. Den Punkt und Paula.

Fast schon analytisch und wie man es nur (#Spoiler) mit tiefster Überzeugung aus eigener Erfahrung kann (hier auch ein kurzer Gedanke an die Autorin), beschreibt er das Empfinden, sterben zu wollen.

„Möchten Sie sterben?“

„Ich … also. Ja.“ (…)

„Oder … wollen Sie gerade einfach nicht leben?“

„Ist das nicht dasselbe?“

„Oh nein, ganz und gar nicht. Wenn Leute sterben wollen, dann tun sie es. Die kann man nicht aufhalten … Wer sterben will, stirbt. Zack, bumm! Da kann man nichts machen, die wollen den Tod, aus welchen Gründen auch immer.“ (…)

„Bei Leuten, die nicht leben wollen, bei denen ist das in meinen Augen anders. Nicht leben zu wollen heißt, gerade nicht da sein zu wollen, weil man das alles nicht aushält.“

Helmut trifft nicht nur die Sache, er trifft in die Tiefen von Paulas Seele und hilft ihr, (#Spoiler) ihren Marianengraben Stück für Stück zu verlassen. Und über amüsante, aber auch traurige Umwege zurück ins Leben zu finden.

Dieses wunderbare „Sie“

Auch am Ende des Buches sind Paula und Helmut noch immer beim Sie. Trotz einer tiefen Vertrautheit, die man wohl nur haben kann, wenn man erlebt, was sie – jeder für sich und beide gemeinsam – durchlebt haben.

Vielleicht ist es der Raum, den sich beide zugestehen, und den sie auch für sich einfordern, der ihnen die Freiheit gibt zu sein, wie sie sind – jetzt, in dieser Situation. Daraus erwächst ein Respekt, eine tiefe Wertschätzung, die mit diesem „Sie“ so treffend auf den Punkt gebracht und gezeigt wird.

Es kann sich keine tiefe Freundschaft entwickeln, dafür ist die Zeit zu kurz. Es ist keine gewählte Begegnung und nur eine zum Teil gewählte gemeinsame Reise. Was Paula und Helmut verbindet, ist die Erfahrung eines Verlustes, die Erfahrung eines Schmerzes, und große Menschlichkeit. Ohne gewohnte Umgangsmuster zu bedienen, oder bedienen zu müssen. Auch das ist ausgesprochen wohltuend.

Null

Marianengraben ist kein Buch, an dem man sich ob der Thematik abarbeiten kann. Nein. Es ist eines der stilleren Bücher, ohne still zu sein. Es ist ein Buch, dessen Thema (be)trifft, ohne betroffen zu sein. Es ist ein zutiefst menschliches Buch, mit schönen Bildern und eben Poesie.

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Jasmin Schreiber, Marianengraben. Eichborn Verlag, 2020.



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